Dem Menschenrechtsausschuss wurde eine neue Erklärung vorgelegt, in der gegen Menschenrechtsverletzungen nach der Ermordung von Shinzo Abe protestiert wird.
Von Massimo Introvigne
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Die Verletzungen des Rechts von Mitgliedern der Vereinigungskirche/Familienföderation auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit gehen in Japan nach der Ermordung des ehemaligen Premierministers Shinzo Abe unvermindert weiter, und die internationale Menschenrechtsgemeinschaft schweigt nicht länger dazu.
Nach einer ersten Eingabe und einer ersten Zusatzerklärung wurde am 4. November von der Coordination des Associations et des Particuliers pour la Liberté de Conscience (CAP-LC), einer Nichtregierungsorganisation mit besonderem Beraterstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC), eine zweite Zusatzerklärung beim Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (HRC) eingereicht. Die Erklärung bietet weitere Beweise dafür, dass die Geschehnisse gegen die Verpflichtungen Japans verstoßen, die das Land mit der Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) eingegangen ist, sowie gegen dessen Fakultativprotokoll, in dem die Autorität des Menschenrechtsrates bei der Beurteilung von Verstößen anerkannt wird.
In der Erklärung, die sich unter anderem auf von Bitter Winter veröffentlichte Recherchen stützt, heißt es, dass Abe am 8. Juli von einem Mann namens Tetsuya Yamagami ermordet wurde, der behauptete, er habe ihn für seine Teilnahme an Veranstaltungen einer mit der Vereinigungskirche (jetzt Familienföderation für Weltfrieden und Vereinigung, FFWPU) verbundenen Organisation bestrafen wollen. Yamagami gab an, er sei dadurch motiviert gewesen, dass seine Mutter im Jahr 2002 in Konkurs gegangen sei, nachdem sie der Kirche übermäßig viel gespendet hatte. Außerdem habe er geplant, die Leiterin der Familienföderation, Dr. Hak Ja Han Moon, zu ermorden.
Zusammen mit Abe war die Vereinigungskirche Ziel und Opfer des Verbrechens. CAP-LC stellte jedoch fest, dass es der Anti-Sekten-Lobby, die jahrzehntelang eine Kampagne gegen die Kirche in Japan geführt hat, gelungen ist, das Narrativ umzukehren und zahlreiche Medien und Politiker davon zu überzeugen, dass die Vereinigungskirche nicht das Opfer, sondern in gewisser Weise selbst für das Attentat auf Abe verantwortlich war.
Die zweite Zusatzerklärung von CAP-LC stützt sich auf das sogenannte “Rom-Modell”, das von der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) auf ihrer Konferenz über Intoleranz und Diskriminierung von Christen am 12. September 2011 in Rom vorgeschlagen und in den folgenden Jahren von einer Reihe von Wissenschaftlern und NGOs übernommen wurde.
„Es handelt sich um ein Drei-Phasen- Modell“, erklärt CAP-LC, „das eine schleichende Entwicklung von Intoleranz zu Diskriminierung und von Diskriminierung zu Verfolgung prognostiziert. Der Angriff auf eine unpopuläre Minderheit beginnt mit Intoleranz. Eine Gruppe wird durch die Verwendung von Stereotypen verunglimpft und als bösartig, übel und ein Hindernis für Glück und soziale Ordnung dargestellt. Sehr oft wird Intoleranz von Lobbys verbreitet, die die Medien manipulieren. Im Rom-Modell folgt auf die Intoleranz bald die Diskriminierung, ein rechtlicher Prozess. In dieser Entwicklung steckt eine perverse Logik. Wenn eine Gruppe oder Organisation die Gesellschaft und die öffentliche Ordnung bedroht, dann braucht die Gesellschaft rechtliche und administrative Maßnahmen gegen sie. Die gleichen Lobbys sind bereit, neue Gesetze einzuführen und administrative und rechtliche Maßnahmen zu fordern. Die dritte Phase der Spirale der Intoleranz führt von der Diskriminierung zur Verfolgung. Wenn die Diskriminierung nicht ausreicht, um eine Minderheit zu unterdrücken, die als sozial unerwünscht angesehen wird, ist es nicht verwunderlich, dass einige, erregt durch Hassreden, das Gesetz in die eigenen Hände nehmen und physische Gewalt gegen diese Minderheit anwenden.“
Mit der warnenden Einschränkung, dass „wir natürlich eine demokratische Regierung wie die japanische nicht mit totalitären Regimen vergleichen können“, erwähnt CAP-LC als Beispiel für die „Spirale der Intoleranz“ nach dem Rom-Modell die Situation der Juden in Nazi-Deutschland. Sie „wurden mit Publikationen und Karikaturen angegriffen (Intoleranz), dann durch die Gesetze diskriminiert (Diskriminierung), und zum Schluss kam Auschwitz (Verfolgung).“
Man kann einwenden, so CAP-LC, „dass Intoleranz im Gegensatz zu Diskriminierung keine Verletzung des ICCPR darstellt. Während Staaten diskriminieren, verbreiten Privatpersonen, Lobbys und Medien Intoleranz. Es gibt jedoch Fälle, in denen staatliche Organe Intoleranz fördern und damit gegen die Bestimmungen von Art. 17 ICCPR über das Recht auf Ehre und Ansehen sowie gegen Artikel 18.1 ICCPR über Religions- und Glaubensfreiheit und Artikel 26 ICCPR über Nichtdiskriminierung“ verstoßen.
Zu diesen Verstößen gehört die Tatsache, dass Rechtsanwalt Masaki Kito, einer der militantesten Gegner der Vereinigungskirche, von der Regierung in den Ausschuss des Ministeriums für Verbraucherangelegenheiten zur Untersuchung der Kirche aufgenommen wurde. Darüber hinaus stellt CAP-LC fest, dass Premierminister Fumio Kishida selbst angekündigt hat, sich mit einem weiblichen „abtrünnigen“ Ex-Mitglied der Kirche zu treffen, das sich als eine der Hauptverleumderinnen der Kirche entpuppt hat und damit ihre Kampagnen mit Fake News legitimiert.
Das Problem, so stellt CAP-LC fest, ist in Wirklichkeit umfassender. Geschichten, die von Sektengegnern und abtrünnigen Ex-Mitgliedern verbreitet werden, werden von den Behörden akzeptiert und verbreitet, ohne dass die Vereinigungskirche die Möglichkeit hat, sich zu verteidigen, was auch gegen Artikel 14 des ICCPR hinsichtlich eines ordentlichen Verfahrens verstößt.
„Solche Diskrepanzen zwischen den Berichten negativer ehemaliger Mitglieder der Vereinigungskirche (und anderer neuer Religionen) und der Realität, wie sie sich später bei näherer Untersuchung und objektiver Analyse herausstellten, sind in der religionssoziologischen Literatur relativ häufig anzutreffen“, kommentiert CAP-LC. „Wie (unter anderem) die Arbeit von David Bromley und dem verstorbenen Anson Shupe in den Vereinigten Staaten deutlich zeigt, werden diejenigen, die aus der Vereinigungskirche austreten, oft durch mit Zwang verbundenen Maßnahmen einer Kombination von Familienmitgliedern, Freunden, den Medien und ‚Antisekten‘ Aktivisten– einschließlich von solchen, die Zwangsmethoden wie die gewaltsame Inhaftierung durch so genannte ‚Deprogrammierer‘ anwenden – stark dahingehend beeinflusst, ihre Erfahrungen in der Kirche, die sie seinerzeit in einem sehr positiven Licht gesehen hatten, auf negative Weise umzudeuten. Einige von ihnen werden dazu veranlasst, sich in den Medien gegen die Kirche auszusprechen und Teil der so genannten ‚Antisektenbewegung‘ zu werden.“
Dies sind die Ex-Mitglieder, die Soziologen als ‚Apostaten‘ bezeichnen. CAP-LC stellt jedoch fest: „Studien von Bromley und anderen haben bewiesen, dass nur eine Minderheit derjenigen, die eine Religion verlassen, zu ‚Apostaten‘ wird. Die meisten Ex-Mitglieder wenden sich einfach anderen Erfahrungen zu und haben kein Interesse daran, die Religion, die sie verlassen haben, öffentlich anzugreifen. Die ‚Apostaten‘ sind hingegen die einzigen Ex-Mitglieder, die von den Antisektenbewegungen mobilisiert und in Kontakt mit den Medien gebracht werden und die gerne über das berichten, was Soziologen als ‚Gräuelgeschichten‘ bezeichnen.“
Die japanischen Behörden ignorieren Präzedenzfälle in anderen Ländern und wissenschaftliche Kritik und betrachten ‚Apostaten‘ als ihre bevorzugte Quelle für Informationen über die Vereinigungskirche. CAP-LC verlangt, „dass der UN-Menschenrechtsausschuss ernsthaft in Erwägung zieht, die japanische Regierung auf die gravierenden Mängel in ihrem bisherigen Umgang mit den Ermittlungen gegen die FFWPU aufmerksam zu machen, und sie auffordert, ihre Verpflichtungen aus dem ICCPR (dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte) in allen künftigen Fällen, in denen es um die FFWPU geht, strikt einzuhalten, einschließlich des Erfordernisses der Unschuldsvermutung bis zum Beweis der Schuld, des Rechts auf ein ordnungsgemäßes Verfahren und des Rechts der Personen, gegen die ermittelt wird, die gegen sie vorgebrachten Beweise anfechten zu können.“
Nach dem Rom-Modell folgt auf Intoleranz die Diskriminierung, „d. h. rechtliche und administrative Maßnahmen gegen eine unliebsame Minderheit“. Diese Maßnahmen sind nun so eskaliert, dass eine Ad-hoc-Kommission eingesetzt wurde, die die Vereinigungskirche/FFWPU untersucht, mit dem Ziel, eine Klage auf ihre Auflösung zu erwägen.
CAP-LC stellt fest, dass die Art und Weise, wie die Kommission organisiert ist, „im Widerspruch zu Artikel 14 ICCPR steht. Statt dass für die FFWPU die Unschuldsvermutung gilt (Artikel 14.2 ICCPR), wird die FFWPU von Beginn des Verfahrens an als schuldig angesehen.“
Auch wenn politische Parteien nicht Teil der Regierungen sind, haben sie eine verfassungsmäßige Rolle und sollten ebenfalls die Grundsätze des ICCPR respektieren. In Japan hat die regierende Liberaldemokratische Partei ihren Governance-Kodex dahingehend geändert, dass es ihren Parlamentsabgeordneten untersagt ist, mit „Organisationen oder Gruppen zusammenzuarbeiten, deren Aktivitäten gesellschaftlich relevante Fragen aufwerfen“, und sie hat ein Schreiben an alle ihre Parlamentarier geschickt, in dem sie erklärt, dass sie mit „Organisationen oder Gruppen“ die Vereinigungskirche/FFWPU und alle ihr angegliederten Organisationen meint. Laut CAP-LC „ist dies ein eklatanter Verstoß gegen Artikel 22 ICCPR über die Vereinigungsfreiheit und Artikel 25 ICCPR über das Recht auf politische Beteiligung“.
Die Tatsache, dass Organisationen, die mit der Vereinigungskirche verbunden sind, einschließlich der Universal Peace Federation und der Women’s Federation for World Peace International, die beide von den Vereinten Nationen anerkannt sind, nur aufgrund der religiösen Überzeugungen ihrer Gründer und (einiger) Mitglieder diskriminiert werden, verstößt auch gegen Artikel 2 und Artikel 18 ICCPR, so CAP-LC.
Abschließend schreibt CAP-LC: „Wir möchten mit der Feststellung schließen, dass die dritte Phase des Rom-Modells, die Verfolgung, in der Zukunft liegt. Sie kann immer noch vermieden werden, indem man das Vorgehen gegen die Vereinigungskirche in dem Stadium stoppt, in dem es sich jetzt befindet, im Stadium der Diskriminierung.
Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Zwar wurde die FFWPU noch nicht aufgelöst, und es wurden noch keine Mitglieder angeklagt oder verhaftet, aber ein Klima der Intoleranz und Diskriminierung, das durch Hassreden angeheizt wird, hat durchaus zu Hassverbrechen geführt.“ CAP-LC listet eine Reihe von Fällen von verbaler und physischer Gewalt gegen Anhänger und gegen Eigentum der FFWPU auf.
„Eine Intervention des Menschenrechtsausschusses wird mehr denn je zu einer Angelegenheit von großer Dringlichkeit!“, so CAP-LC abschließend.