Das neue Gesetz verbietet Spenden, die auf „Angst vor Unglück in diesem oder im nächsten Leben und auf dem Vertrauen in „inspirierte“ Lehrer beruhen, und stellt damit alle Religionen unter Verdacht.
Von Massimo Introvigne
Artikel 2 von 4. Lesen Sie Artikel 1.
Read the original article in English.
Artikel 4.6 des sogenannten Religionsspenden-Gesetzes, das am 10. Dezember 2022 vom japanischen Parlament verabschiedet wurde, verbietet es, um Spenden zu werben, indem man behauptet, ein Wissen zu haben, das „auf Inspirationen oder anderen besonderen Fähigkeiten, die sich nur schwer vernünftig nachweisen lassen, beruhen,“ und die Spender davon überzeugt, es sei „unerlässlich, das Leben, den Körper, das Eigentum oder andere wichtige Dinge der Person oder ihrer Angehörigen zu spenden, um einen ernsthaften Nachteil zu vermeiden.“
Artikel 4.6 ist das Herzstück des Gesetzes und macht es speziell auf Religionen anwendbar, obwohl sein Anwendungsbereich nicht nur auf religiöse Spenden beschränkt ist. Tatsächlich beruht religiöses Wissen typischerweise „auf Inspiration oder anderen besonderen Fähigkeiten, die sich nur schwer vernünftig nachweisen lassen“.
Die Bestimmung befasst sich mit einem Problem, das so alt ist wie das Recht, nämlich der Frage, ob es in der Religion Betrug geben kann. Zunächst einmal sollten wir verstehen, was Betrug ist. „Betrug“ kommt von einem griechischen Verb und bedeutet „brechen, verletzen, schädigen“. Im Westen wurde das Gesetz über Betrug, wie viele andere Gesetze, von den Römern eingeführt. Unser „Betrug“ [im englischen „fraud“] kommt vom lateinischen „fraus“. Betrug war für die Römer nicht unwichtig. Tatsächlich gab es eine Göttin Fraus, die eine der Helferinnen des Gottes Merkur war, des römischen Gegenstücks zum griechischen Hermes, der der Gott des Handels und der Kommunikation war, jedoch auch als Betrüger dargestellt wurde.
Betrug wurde in der griechischen Kultur unterschiedlich bewertet und war zulässig, wenn er aus den richtigen Motiven heraus praktiziert wurde. Der mythologische Held Odysseus wurde hoch gelobt, weil er die Trojaner mit seinem berühmten Trojanischen Pferd getäuscht hatte. Die Römer, die etwas moralistischer eingestellt waren, hatten eine weniger nachsichtige Auffassung von Betrug. Cicero stellte fest, dass zwei Strategien angewendet werden können, um gute Bürger zu etwas zu bewegen, das sie nicht tun wollen: den Weg des Löwen, die Gewalt, und den Weg des Fuchses, den Betrug. Der letztere Weg ist nicht so edel wie der des Löwen und sollte als verwerflicher angesehen werden.
Gerade im Zusammenhang mit Betrug machten römische Rechtsexperten die berühmte Aussage : „omnis definitio periculosa“, was bedeutet, dass im Bereich des Rechts „alle Definitionen gefährlich sind“. Viele Jahrhunderte später würde ein amerikanischer Richter am Obersten Gerichtshof dasselbe über Pornografie sagen: „Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe.“ In der Praxis diskutierten jedoch schon die Römer darüber, was Betrug ist.
Die Römer interessierten sich zwar weniger für die subjektiven Beweggründe der Übeltäter als ihre christlichen Nachfolger im Mittelalter, doch waren sie der Ansicht, dass man Betrug begeht, wenn man jemanden dazu bringt, einem aufgrund falscher Versprechungen oder Behauptungen Geld oder andere Güter zu geben. Der große römische Jurist Ulpian nannte Beispiele, die auch heute noch gültig sind: Ich verkaufe ein Haus, das mir nicht gehört; ich verspreche, dass jemand, der mir heute Geld gibt, zu gegebener Zeit ein prächtiges Juwel erhalten wird, das ich gerade kaufe – danach verschwinde ich, und das Opfer steht ohne Geld und ohne Juwel da.
Beachten Sie, dass wir es in diesen Fällen mit materiellen Gütern zu tun haben. Das spezifische Haus oder Juwel mag nicht existieren, aber Häuser und Juwelen existieren in der materiellen, physischen Welt. Wenn ich verspreche, ein Haus oder ein Schmuckstück zu liefern, und das entsprechende Geld einstecke, ohne die Absicht, es zu liefern, ist es leicht, den Betrug zu beweisen.
Aber schon die Römer wussten, dass das Versprechen eines immateriellen Vorteils viel problematischer ist. Es ist eine Sache, zu versprechen, ein Haus zu verkaufen, von dem sich später herausstellt, dass ich es gar nicht besitze, oder ein Juwel, das nie auftaucht. Aber was ist, wenn ich religiöse Erleuchtung oder Belohnungen im Jenseits verspreche? Anders als im Fall des Hauses oder des Juwels ist „Erleuchtung“ offensichtlich kein materieller Gegenstand, und was im Jenseits geschieht, lässt sich per definitionem nicht beweisen.
Die Römer taten sich mit dieser Frage schwer, waren sich aber weitgehend darüber im Klaren, dass sich die Versprechen einer Religion von den Versprechen eines Bauunternehmers oder eines Juweliers unterscheiden, und ließen die Religion in Ruhe.
In späteren Zeiten, in denen es eine Staatsreligion und keine Religionsfreiheit gab, wurde die vorherrschende Religion nicht behelligt, wenn sie um Spenden warb und dabei den Spendern ein besseres Leben nach dem Tod versprach; und die konkurrierenden Religionen waren ohnehin verboten oder wurden kaum toleriert. Ein berühmtes Beispiel ist die Kontroverse um den Ablasshandel. Die katholische Kirche lehrt, dass die meisten verstorbenen Menschen weder gut genug sind, um direkt in den Himmel zu kommen, noch schlecht genug, um in die Hölle zu kommen. Sie sollten eine Zeitlang an einem Ort namens Fegefeuer verbringen, wo sie für ihre Sünden büßen. Es ist kein angenehmer Ort, aber während sie nichts tun können, um ihre Zeit dort zu verkürzen, können es ihre Verwandten und Freunde auf der Erde durch geeignete rituelle Handlungen, unter anderem durch das Abhalten von Messen für die Seele des Verstorbenen.
Im 16. Jahrhundert wurde diese Lehre von Predigern gewissermaßen banalisiert, die behaupteten, dass Geldopfer im Namen der Verstorbenen diese automatisch vom Fegefeuer in den Himmel befördern würden. Dies war der Auslöser für Martin Luthers Aufstand gegen die Römische Kirche. Seinem Erzfeind, dem Dominikanerprediger Johann Tetzel, schrieb er den Spruch zu: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt“. Moderne Historiker glauben, dass Tetzel diesen Spruch nie verwendet hat, aber dass Geldopfer den Zustand einer Seele im Fegefeuer lindern können, wurde damals von der katholischen Kirche allgemein gelehrt.
Zahllose andere Religionen lehren, dass Opfergaben tugendhafte Taten sind, durch die sich die Lebenden ein besseres Leben nach dem Tod oder eine bessere Reinkarnation ermöglichen können, und dass die Toten in der geistigen Welt besser behandelt werden, wenn ihre Verwandten oder Freunde auf der Erde in ihrem Namen spenden.
Warum glauben das viele? Weil es ihnen von Priestern, Pastoren, Rabbinern und spirituellen Meistern gesagt wird, die behaupten, sie wüssten Dinge über das Leben nach dem Tod, die die meisten von uns nicht wissen. Dies ist genau das „Wissen, das auf Inspiration oder anderen besonderen Fähigkeiten beruht, die nur schwer nachgewiesen werden können“. Spirituelle Führer oder Meister können nicht „vernünftig nachweisen“, dass ihre Lehren über das Leben nach dem Tod wahr sind. Und viele Gläubige spenden ihnen, um für sich selbst und für ihre verstorbenen Angehörigen solch „schwere Unglücke“ zu vermeiden, wie Jahrhunderte im katholischen Fegefeuer oder in einer buddhistischen kalten Hölle verbringen zu müssen oder vielleicht als Frosch wiedergeboren zu werden.
Im Markusevangelium 10,17-22 kommt ein reicher junger Mann zu Jesus und fragt ihn, wie er sicher sein kann, „das ewige Leben zu erben“. Jesus sagt ihm, dass ein ehrliches Leben, wie es der junge Mann führt, ein guter Anfang ist, aber keine Garantie für den Himmel darstellt. Wenn er sich seines „Schatzes im Himmel“ sicher sein will, wird dem jungen Mann gesagt, er solle „alles, was du hast, verkaufen und den Armen geben”. Interessanterweise haben einige moderne Bibelwissenschaftler darin eine Kritik Jesu an den römischen Gesetzen gesehen, die die religiösen Spenden der Juden begrenzten – sie sollten ihr Geld behalten, um Steuern an die Römer zu zahlen –, aber hier geht es darum, dass Jesus mit Autorität spricht und sein Wissen in der Tat „auf Inspiration und anderen besonderen Fähigkeiten beruht“.
Der Abschied von all seinem Geld war für den reichen jungen Mann ein handfestes und schmerzhaftes Ereignis in der physischen Welt. Dass er mit „ewigem Leben“, „einem Schatz im Himmel“, belohnt wird, ist etwas, das, wie das japanische Gesetz sagen würde, „schwer vernünftig nachzuweisen war“. Wenn der junge Mann spenden würde, würde er dies im Vertrauen auf Jesus als einem „inspirierten“ Meister mit „besonderen Fähigkeiten“ tun, aber auch aus „Angst“, das Schiff zu verpassen, das zum ewigen Leben führt.
Dies ist nicht die Spendenstruktur in einer bestimmten Religion. Es ist die Spendenstruktur in allen Religionen. Wenn es ein Betrug ist, Spenden zu erbitten oder zu verlangen, dass die Anhänger sich aktiver in der Religion engagieren, indem ihnen Erleuchtung in diesem Leben und Belohnungen im nächsten Leben versprochen werden, dann sind alle Religionen Betrüger. Dies war in der Tat die Schlussfolgerung der aufklärerischen Feinde der Religionen und der Marxisten. Aber es ist eine Schlussfolgerung, der sich demokratische Regierungen widersetzt haben. Es ist überhaupt nicht klar, wie Japan die Religionsfreiheit respektieren kann, wie es Artikel 12 des neuen Gesetzes vorschreibt, wenn es Spenden verbietet, die aus der „Angst“ heraus getätigt werden, dass man das Heil oder die Erleuchtung verpassen könnte, oder die auf der Überzeugung beruhen, dass ein religiöser Lehrer oder eine Kirche Hüter eines höheren, auf Inspiration beruhenden Wissens ist.