Die Bundesrichter entschieden, dass die Stadt München von ihren Bürgern keine Erklärung verlangen darf, dass sie keine Scientologen sind, um bestimmte Leistungen in Anspruch nehmen zu können.
von Massimo Introvigne
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Einige Leser von Bitter Winter erinnern sich vielleicht an unsere Berichterstattung im letzten Jahr über eine Entscheidung des 4. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der ein erstinstanzliches Urteil des Verwaltungsgerichts München zur Frage eines von der Stadt München verwendeten “Sektenfilters” aufhob.
Bei “Sektenfiltern” handelt es sich um skurrile Dokumente, die von Kommunalverwaltungen, Unternehmen und politischen Parteien in einigen Gebieten Deutschlands verlangt werden. Wer sich um eine Stelle bewirbt oder mit diesen Institutionen und Unternehmen Geschäfte machen will, muss eine Erklärung unterschreiben, dass er weder Scientologe ist noch “die Lehren/Technologie von L. Ron Hubbard” (dem Gründer von Scientology) verwendet.
Die Stadt München subventioniert die Benutzung von Elektrofahrrädern, sogenannten “Pedelecs”, zum Zwecke des Umweltschutzes. Eine Musikerin, die zufällig Scientologin ist, beantragte am 6. August 2018 einen Zuschuss für die Anschaffung eines Pedelecs. Als Teil ihres Antrags wurde sie aufgefordert, einen “Sektenfilter” zu unterzeichnen, in dem sie erklärt, dass “sie keine Inhalte, Methoden oder Technologien von L. Ron Hubbard anwenden, lehren oder anderweitig verbreiten wird und dass sie keine Kurse oder Seminare besuchen wird, die auf dieser Technologie basieren.” Sie weigerte sich, und am 12. Dezember 2018 lehnte die Stadt München ihren Antrag ab.
Sie klagte gegen die Stadt, doch am 28. August 2019 entschied das Verwaltungsgericht München gegen sie und stellte fest, dass die Stadt “frei entscheiden kann, welcher Personenkreis durch freiwillige finanzielle Zuwendungen unterstützt werden soll”, und schloss Scientologen und Anhänger von L. Ron Hubbard aus.
Die Musikerin legte Berufung ein, und das Oberverwaltungsgericht entschied am 16. Juni 2021 mit einer am 3. August 2021 mitgeteilten Begründung, dass die Entscheidung der Stadt “rechtswidrig ist und die Rechte der Klägerin verletzt.” Die Einführung eines “Sektenfilters” vor der Gewährung von Fördermitteln für Elektromobilität verstößt gegen die verfassungsmäßige Garantie der Religionsfreiheit und den Verfassungsgrundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, wonach Bürger nicht aufgrund ihrer Rasse, ihrer Herkunft, ihrer Sprache, ihres Glaubens oder ihrer religiösen oder philosophischen Überzeugung benachteiligt werden dürfen, so das Gericht. Die Richter stellten fest, dass die Stadt eingeräumt hatte, dass der Antrag der Musikerin, abgesehen von der Frage des “Sektenfilters”, die gesetzlichen Anforderungen erfüllt und genehmigt worden wäre. Die Anwendung eines “Sektenfilters” stelle daher eine verfassungswidrige religiöse Diskriminierung dar.
Am 6. April schloss sich das Bundesverwaltungsgericht dieser Auffassung an und verpflichtete die Stadt München, den erforderlichen Förderbescheid zu erteilen. Es stellte fest, dass es drei Gründe gibt, die Anwendung des “Sektenfilters” in diesem Fall für rechtswidrig zu erklären.
Erstens darf die Subventionierung einer Gemeinde nicht von einem Sektenfilter abhängig gemacht werden. Art. 28 des deutschen Grundgesetzes, der sich auf die Selbstverwaltungsrechte einer Gemeinde bezieht, berechtigt diese nicht dazu, eine Erklärung über den Glauben einer Person zu verlangen.
Zweitens verletze das Verlangen einer solchen Erklärung und die Verweigerung eines Zuschusses im Falle ihrer Ablehnung die Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie die Freiheit der Religionsausübung, die beide durch Art. 4 des deutschen Grundgesetzes geschützt sind. Eine solche Praxis ist verfassungswidrig.
Drittens verstößt die Sektenfilter-Praxis gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Bürger vor dem Gesetz, da die betreffenden Kriterien für Personen, die für den Erhalt eines Zuschusses in Frage kommen, unangemessen und ungeeignet sind.
Obwohl es in dem Fall nicht um “Sektenfilter” im Allgemeinen ging, scheint die Auffassung des Gerichts darauf hinzudeuten, dass es in Ermangelung eines geeigneten Gesetzes per se verfassungswidrig ist, von einer Person eine Erklärung über ihren Glauben zu verlangen. Dieses Ergebnis ermutigt Scientologen und alle Bürger, die auf ihre Menschenrechte bedacht sind, sich zu weigern, diese widerwärtigen Dokumente zu unterschreiben. Die Entscheidung ist somit ein Sieg für die Religionsfreiheit und sollte Deutschland davon überzeugen, dass in einem demokratischen Land, das auf den Menschenrechten basiert, kein Platz für “Sektenfilter” ist.