BITTER WINTER

Das Abe-Attentat und die Vereinigungskirche in Japan: Wie man einen Mob erzeugt

by | Sep 10, 2022 | Documents and Translations, German

Wie Hass erzeugt und gegen eine religiöse Minderheit gerichtet wurde, ist ein Lehrbuchbeispiel für “Mob-Psychologie”.

Von Massimo Introvigne

Artikel 5 von 7. Lesen Sie Artikel 1Artikel 2Artikel 3 und Artikel 4.

Read the original article in English.

Unification Church members protest in Korea against media slander in Japan.
Mitglieder der Vereinigungskirche protestieren in Korea gegen Verleumdungen in den japanischen Medien.

Im Jahr 1895 veröffentlichte der französische Anthropologe Gustave Le Bon sein Buch „Psychologie der Massen“ („Psychologie des foules“), das später ungeheuer einflussreich werden sollte. Obwohl es nicht ohne akademische Kritiken war, wurde es von Lenin, Hitler und Mussolini studiert, die alle zugaben, dass sie in dem Buch eine Quelle der Inspiration fanden. Le Bon begründete eine neue Wissenschaft, die er “Psychologie der Massen” nannte. Die meisten der von ihm beschriebenen Massen waren jedoch sozial destruktiv ausgerichtet und würden im heutigen Deutsch eher als „mob“ bezeichnet werden.

Le Bon beschrieb drei Stufen des Prozesses, der einen Mob hervorbringt. Die erste ist die Suggestion. Er war der Ansicht, dass die Bürger moderner Gesellschaften durch die Medien und Propaganda leicht zu beeinflussen und zu manipulieren sind – eine prophetische Aussage, wenn man bedenkt, dass er dies schrieb lange bevor es Fernsehen und Internet gab. Die zweite Stufe ist die psychische Ansteckung. In der heutigen Zeit der Epidemien sind wir uns alle darüber im Klaren, dass sich ein Virus unsichtbar, aber unaufhaltsam verbreitet. Das Gleiche, so Le Bon, geschieht mit Mythen und Desinformationen, die wir heute als Fake News bezeichnen würden.

Gustave Le Bon. Bildnachweis.
Gustave Le Bon. Bildnachweis.

Le Bons dritte Stufe war die Anonymität. Die einzelnen Mitglieder eines Mobs kennen sich zwar nicht, zeigen aber das gleiche Verhalten und scheinen von einem “Gruppengeist” gesteuert zu werden, der wie eine bösartige Spinne im Zentrum eines unsichtbaren Netzes ihre Handlungen lenkt. Anonym handelnd, aber wissend, dass Millionen zur gleichen Zeit auch tun, was sie tun, glauben die Mitglieder eines Mobs, dass sie keine persönliche Verantwortung haben, und erleben ein berauschendes Gefühl der Unbesiegbarkeit.

Le Bons Buch ist erstaunlich modern und könnte mit Blick auf die heutigen sozialen Medien geschrieben worden sein. Im Schutz der Anonymität beleidigen Millionen von selbsternannten Kriegern in mobartigen Cyberkriegen ihre Zielobjekte in dem Glauben, sie könnten sich der Verantwortung entziehen, und fühlen sich als anonyme Soldaten einer unbesiegbaren Armee.

Nach der Ermordung des ehemaligen Premierministers Shinzo Abe erlebt Japan ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie ein Mob durch Suggestion, Ansteckung und Anonymität entsteht. Der Attentäter behauptete, er hätte Abe bestrafen wollen, weil der ehemalige Premierminister an Veranstaltungen einer Organisation teilgenommen hatte, die mit der Vereinigungskirche/Familienföderation verbunden war. Der Mörder glaubte, seine Mutter sei durch ihre übermäßigen Spenden an diese Kirche, der sie angehört, ruiniert worden.

Was geschah, ist klar. Es gibt einen Täter, den Mörder von Abe, und es gibt Opfer, nämlich Abe selbst und die Vereinigungskirche, deren Leiter der Mörder ebenfalls zu töten plante. Doch die Psychologie des Mobs funktioniert unabhängig von Logik und Fakten.

Anti-Vereinigungskirche-Graffiti, das an die Kirche in Aichi gesprüht wurde.
Anti-Vereinigungskirche-Graffiti, das an die Kirche in Aichi gesprüht wurde.

Ein Mob entsteht nicht spontan. Die Vereinigungskirche in Japan hat mächtige Gegner, und diese verbreiteten in den Medien Suggestionen, die viele zu der Annahme verleiteten, die Kirche sei nicht das Opfer, sondern in gewisser Weise selbst für den Tod von Abe verantwortlich. Mittels psychischer Ansteckung breitete sich diese Suggestion aus, und es bildete sich ein anonymer Mob, in dem Einzelne, die einander nicht kennen, einem Gruppendenken folgten, beleidigten, bedrohten und in einigen Fällen Straftaten begingen, weil sie sich durch die Zugehörigkeit zu einer Menschenmenge oder durch das Verstecken hinter ihrem Telefon oder Computer geschützt fühlten.

Seit der Ermordung von Abe bis zum 20. August hat die Vereinigungskirche in Japan etwa 150 Hassvorfälle dokumentiert. Aber sie gehen weiter und die Zahl dürfte noch höher sein, da Beleidigungen und Drohungen gegen einzelne Kirchenmitglieder nicht unbedingt der Zentrale gemeldet werden.

Die Untersuchung der Dokumente zu diesen Fällen ergibt eine alarmierende Lektüre. Sie zeigt, wie leicht und schnell heute Mobs entstehen, mit einer Technologie, die es zu Le Bons Zeiten noch nicht gab. Viele der Drohanrufe an die Zentrale oder die Zweigstellen der Familienföderation, die aufgezeichnet wurden, begannen mit Sätzen wie “Ich lese die Medien” oder “Ich sehe fern”. Durch den typischen Prozess der Mobbing-Psychologie glaubten sie, was sie hörten, und waren überzeugt davon, dass die Medien per Definition “die Wahrheit sagen”. Sie glaubten nicht nur, dass sie sofort zu “Experten” für die Vereinigungskirche geworden waren, sie fühlten sich auch bereit, “etwas zu tun” und das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.

Weil sie es gelesen oder im Fernsehen gehört hatten, glaubten sie zu wissen und schrien am Telefon oder schrieben im Internet, dass die Vereinigungskirche “Abe getötet hat” – der in Wirklichkeit von einem fanatischen Gegner dieser Kirche ermordet wurde –, dass sie “Gehirnwäsche betreibt” – eine Vorstellung, die von den etablierten Wissenschaftlern der neuen religiösen Bewegungen schon vor langer Zeit als Pseudowissenschaft diskreditiert wurde – und “Verbrechen begeht”.

In mehreren Anrufen und Kommentaren schwingt auch ein beunruhigender rassistischer Unterton mit: “Ihr seid Koreaner, geht zurück nach Korea”, “Wir wissen, Koreaner interessieren sich nur für Geld”, “Ihr seid eine koreanische anti-japanische Gruppe”. Auch wenn die Vereinigungskirche von Koreanern gegründet wurde, sind die Mitglieder in Japan überwiegend Japaner.

Wie Le Bon vorhergesagt hat, verleiten die Anonymität und das toxische Gefühl, nicht verantwortlich zu sein, die Mitglieder dieses Mobs zunehmend dazu, Verbrechen zu begehen. Am 17. Juli postete jemand an einer elektronischen Pinnwand: “Morgen früh werde ich zu eurem Hauptquartier kommen und alle mit einem Messer töten.” Todesdrohungen gingen bei Zweigstellen der Vereinigungskirche in Aichi, Hokkaido und Osaka ein. In Nara führten Morddrohungen gegen die Pastoren, die der Polizei gemeldet wurden, zur vorsorglichen Schließung der örtlichen Kirche.

Von Rechtsextremisten betriebene Lautsprecherwagen belästigten am 24. und 30. Juli die Zentrale der Vereinigungskirche.
Von Rechtsextremisten betriebene Lautsprecherwagen belästigten am 24. und 30. Juli die Zentrale der Vereinigungskirche.

In Tokio, Nara und Osaka fuhren Lautsprecherwagen um die Kirchen herum und riefen feindselige Parolen. Einige wurden von Rechtsextremisten betrieben, die am 4. August in Osaka schrien: “Koreanische antijapanische Gruppe, raus aus Japan!”

In Aichi wurde am 15. August der Briefkasten der Kirche schwarz angemalt und Graffiti gesprüht, die den Mörder von Abe feierten.

Der schwarz-angestrichene Briefkasten der Kirche in Aichi.
Der schwarz-angestrichene Briefkasten der Kirche in Aichi.

Um die Gefahr, die von all dem ausgeht, ganz zu verstehen, müssen wir auf Le Bon zurückkommen. Ein oder zwei isolierte Vorfälle können als unbedeutend abgetan werden, obwohl es immer möglich ist, dass Todesdrohungen zu tatsächlicher Gewalt eskalieren. Hundert oder mehr Vorfälle zeigen, dass ein Mob von anonymen, selbsternannten Wächtern am Werk ist. Sie sind einander nicht bekannt, werden aber alle von der bösartigen Spinne im Zentrum des Netzes manipuliert – einer Spinne, die hasst, verleumdet, diskriminiert und eines Tages töten könnte.

NEWSLETTER

SUPPORT BITTER WINTER

READ MORE