Die Kampagne gegen die Vereinigungskirche in Japan ist ein weiteres ungeheuerliches Beispiel für die Verwendung des Begriffs „Sekte“ zur Diskriminierung unliebsamer Minderheiten.
Von Massimo Introvigne
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Am 6. Juni 2014 besuchte der japanische Premierminister Shinzo Abe Papst Franziskus im Vatikan. Er schenkte ihm eine Nachbildung eines japanischen „Geheimspiegels“ aus dem 17. Jahrhundert. Er sieht aus wie ein normaler Spiegel, aber wenn er so ausgerichtet wird, dass er einen Sonnenstrahl auffängt, kommt ein Bild von Jesus Christus zum Vorschein. Christen in Japan mussten damals die geheimen Spiegel benutzen, denn wenn sie mit einem christlichen Bild oder Symbol erwischt wurden, wurden sie hingerichtet. Abe entschuldigte sich bei der katholischen Kirche für die mehr als 5.000 Katholiken, die in Japan während der Verfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert und danach getötet worden waren. Viele von ihnen wurden gekreuzigt.
Noch 1829 wurden drei Frauen und drei Männer durch die Straßen von Osaka geführt und gekreuzigt, weil sie Mitglieder der „bösen Sekte“ des Christentums waren (möglicherweise waren sie es auch nicht) und angeblich Anhänger mittels schwarzer Magie rekrutierten.

Abes Entschuldigung war lobenswert, aber sie schien sich nur auf Gräueltaten in ferner Vergangenheit zu beziehen. Oder vielleicht auch nicht. Wissenschaftler wie James T. Richardson und Wu Junqing haben festgestellt, dass sich seit den Zeiten, als im Westen Hexen verbrannt und im kaiserlichen China und Japan „böse Sekten“ blutig verfolgt wurden, nicht viel geändert hat. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die schwarze Magie als Gehirnwäsche säkularisiert wurde, ein pseudowissenschaftliches Konzept, das impliziert, dass „Sekten“ ihre Anhänger jetzt mittels geheimnisvoller psychologischer Techniken verhexen.
Während Abe sich ironischerweise für die Verfolgung des Christentums in Japan als eine „böse Sekte“, die sich schwarzer Magie bediente, entschuldigte, wird seine Ermordung dazu benutzt, die Vereinigungskirche/ Familienföderation als eine „Sekte“, die Spenden mittels Gehirnwäsche, die moderne Version der schwarzen Magie, erhalte, abzustempeln und ein hartes Durchgreifen gegen „Sekten“ im Allgemeinen zu fordern. Die verdrehte Logik, mit der diese Behauptungen begründet werden, beruht auf der Tatsache, dass Abes Attentäter die Vereinigungskirche hasste, weil seine Mutter zwanzig Jahren zuvor hohe Spenden an sie geleistet hatte. Er tötete Abe, um ihn dafür zu bestrafen, dass er über Video an einer Veranstaltung einer mit dieser Kirche verbundenen Organisation teilgenommen und einer anderen eine Nachricht geschickt hatte. Anstatt den Attentäter und die gegen die Vereinigungskirche gerichteten Hasskampagnen, die ihn möglicherweise zu seiner Tat angestachelt haben, zu beschuldigen, wird den Opfern in einer spektakulären Umkehrung der Logik und der Fairness der Prozess gemacht.
Was ist aber eine Sekte? Eine große Mehrheit von Religionswissenschaftlern stimmt darin überein, dass die Bezeichnung „Sekte“ oft lediglich ein Etikett ist, mit dem bestimmte Gruppen diskriminiert werden, die von mächtigen Lobbys, aus welchen Gründen auch immer, abgelehnt werden. Das war nicht immer so. Das Wort Cult „Sekte“ und seine Entsprechungen in anderen Sprachen, die sich vom lateinischen Wort „secta“ ableiten – wie das französische „secte“ –, hatten in der Soziologie des frühen 20. Jahrhunderts eine präzise Bedeutung.
Sie bezeichneten junge Religionen, in denen die meisten oder alle Mitglieder als Erwachsene konvertiert sind und nicht in den Glauben hineingeboren wurden. Das von den frühen Soziologen verwendete Beispiel war, dass Jesus und die Apostel Teil einer „Sekte“ waren, da keiner von ihnen als Christ geboren wurde; sie waren alle konvertierten Juden. Nach einigen Jahrhunderten wurden die geborenen Christen zur Mehrheit, und das Christentum entwickelte sich von einer “Sekte” zur Kirche. Die meisten Gelehrten, die diese Terminologie verwendeten, waren selbst Christen, und für sie hatte das Wort „Sekte“ eindeutig keine negativen Implikationen.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts begann jedoch eine neue Wissenschaft, die Kriminologie, das Wort „Sekte“ mit einer ganz anderen Bedeutung zu verwenden, wobei es einige ältere Vorläufer gab. Eine „Sekte“ war eine religiöse Gruppe, die systematisch Verbrechen beging oder in Zukunft wahrscheinlich Verbrechen begehen würde. Diese Bedeutung von „Sekte“ ähnelte dem Ausdruck „böse Sekte“, der im kaiserlichen Japan zur Verfolgung und Kreuzigung von Christen verwendet wurde. Dies sorgte für weitere Verwirrung. Ein Soziologe, der in den 1960er Jahren gefragt wurde, ob Jesus und die Apostel einer „Sekte“ angehörten, hätte dies auf der Grundlage traditioneller soziologischer Kategorien bejahen müssen, doch da die kriminologische Verwendung des Begriffs auch die Medien eroberte, riskierte er, missverstanden und beschuldigt zu werden, die ersten Christen als Kriminelle bezeichnet zu haben.
Aus diesem Grund haben internationale Religionswissenschaftler und allen voran die britische Soziologin Eileen Barker, spätestens seit den 1960er Jahren den Begriff „Sekte“ aufgegeben und den Begriff „Neue religiöse Bewegungen“ für die neu entstandenen Gruppen verwendet, deren Mitglieder meist Konvertiten der ersten Generation waren. Sie waren sich der Verwendung des Begriffs „Sekte“ durch Kriminologen bewusst und leugneten nicht die Existenz von Gruppen, die routinemäßig Verbrechen im Namen der Religion begehen, sowohl unter den „neuen“ als auch unter den „alten“ religiösen Traditionen – wie z. B. Netzwerke pädophiler katholischer Priester oder Terroristen, die den Namen des Islam verwenden oder missbrauchen. Da das Wort „Sekte“ nur Verwirrung stiften würde, wählte man andere Begriffe, zu denen später auch der von den Unterzeichnern vorgeschlagene Begriff „kriminelle religiöse Bewegungen“ gehörte.

Kriminelle religiöse Bewegungen sind Gruppen, die systematisch Verbrechen wie körperliche Gewalt, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch oder Mord begehen oder zumindest dazu auffordern. Seit den späten 1960er Jahren traten aktivistische „Anti-Sekten“- Gruppen auf, die eine Begrenzung der Aktivitäten von „Sekten“ forderten. Sie definierten diese nicht als Bewegungen, die gewöhnliche Verbrechen wie Mord oder sexuellen Missbrauch begehen, sondern als Gruppen, die sich eines imaginären Verbrechens schuldig machen, der Gehirnwäsche. Das Wort „Gehirnwäsche“ wurde während des Kalten Krieges von dem CIA geprägt, um mysteriöse Techniken zu benennen, die angeblich von den chinesischen Maoisten und den Sowjets angewandt wurden, um ansonsten „normale“ Bürger fast augenblicklich in Kommunisten zu verwandeln. Später wurde er auf „Sekten“ angewandt. Um 1990 wurde er von Religionswissenschaftlern als Pseudowissenschaft entlarvt, die nur dazu dient, bestimmte Gruppen zu diskriminieren. Zumindest in den Vereinigten Staaten wurde er von Gerichten abgelehnt.
Die Ermordung von Abe wird nun benutzt, um das tote Pferd der Gehirnwäsche und jene Theorien wiederzubeleben, die behaupten, dass böse „Sekten“ im Gegensatz zu guten „Religionen“. Mitglieder und Spender durch geistige Manipulation rekrutieren. Wie während den Zeiten der europäischen Hexenjagden und der japanischen Christenverfolgung, für die sich Abe entschuldigte, führen Anschuldigungen der schwarzen Magie – von der Gehirnwäsche nur eine säkularisierte Version ist – und des Betreibens einer „bösen Sekte“ zur Entmenschlichung, Diskriminierung und Verfolgung der so Beschuldigten. Heute kommen sie wegen der Vereinigungskirche. Morgen könnten sie jede Religion ins Visier nehmen, die unter ihren Feinden Lobbys hat, die mächtig genug sind, die Medien davon zu überzeugen, dass sie eine „Sekte“ ist.

Massimo Introvigne (born June 14, 1955 in Rome) is an Italian sociologist of religions. He is the founder and managing director of the Center for Studies on New Religions (CESNUR), an international network of scholars who study new religious movements. Introvigne is the author of some 70 books and more than 100 articles in the field of sociology of religion. He was the main author of the Enciclopedia delle religioni in Italia (Encyclopedia of Religions in Italy). He is a member of the editorial board for the Interdisciplinary Journal of Research on Religion and of the executive board of University of California Press’ Nova Religio. From January 5 to December 31, 2011, he has served as the “Representative on combating racism, xenophobia and discrimination, with a special focus on discrimination against Christians and members of other religions” of the Organization for Security and Co-operation in Europe (OSCE). From 2012 to 2015 he served as chairperson of the Observatory of Religious Liberty, instituted by the Italian Ministry of Foreign Affairs in order to monitor problems of religious liberty on a worldwide scale.


