BITTER WINTER

Warum Medien „Sekten“ hassen

by | Sep 19, 2022 | Documents and Translations, German

Oder vielleicht hassen sie auch niemanden. Sie wissen einfach, dass sich reißerische Geschichten, die Religion mit Geld, Macht und illegalem Sex in Verbindung bringen, immer gut verkaufen.

von Massimo Introvigne

Read the original article in English.

Fake “stamps” of the Luther Blissett project. From Twitter.
 Gefälschte „Briefmarken“ des Luther-Blissett-Projekts. Von Twitter.

Wir schreiben das Jahr 1997.Italien befand sich inmitten heftiger Medienkampagnen gegen „Sekten“, die von organisierten Anti-Kult-Bewegungen angeheizt wurden. Eine bis dahin unbekannte Organisation namens „Cosamo“, die sich dem Kampf gegen „Sekten“ verschrieben hatte, gab Pressemitteilungen heraus, in denen sie behauptete, die besten Beweise für „sektiererische“ Straftaten zu haben. Sie schickte an verschiedene lokale Medien Teile eines Videos mit Ausschnitten eines „Rituals“, in dem „Sektenanhänger“ scheinbar junge Mädchen belästigten. Das weckte schließlich landesweites Interesse, und einer der wichtigsten italienischen Fernsehsender erklärte sich bereit, das vollständige Video auszustrahlen, wenn Cosamo es zur Verfügung stellen würde. Diese mysteriöse Organisation, die nur durch das Hinterlassen von Nachrichten auf Mailboxen kommunizierte, antwortete, dass sie das Video nicht zur Verfügung stellen könne, aber die technischen Möglichkeiten geschaffen habe, um das Ritual live zu übertragen. Natürlich stünde es dem Sender frei, die Live-Übertragung jederzeit abzubrechen, falls die Bilder für eine Ausstrahlung zu grausam sein würden.

Schließlich akzeptierte der Sender die Bedingungen von Cosamo, und das aufsehenerregende Video wurde landesweit im Fernsehen ausgestrahlt. In dem Video umringen maskierte „Sektenanhänger“ ein gefesseltes und geknebeltes junges Mädchen, scheinbar bereit, sie zu belästigen und vielleicht sogar zu töten. Als die Zuschauer auf das Schlimmste gefasst waren und bevor es dem Sender gelang, die Liveschaltung zu unterbrechen, stand das Mädchen auf und begann, mit den „Sektenanhängern“ zu tanzen und ein Lied über die Leichtgläubigkeit der Medien zu singen.

Die Anti-Kult-Organisation Cosamo hat niemals existiert. Wie sich herausstellte, war die ganze Geschichte eine ausgeklügelte Falschmeldung einer Gruppe, die sich „Luther Blissett“ nannte (der Name stammte von einem berühmt-berüchtigten Fußballspieler). Die Gruppe war bereits für ihre Streiche bekannt geworden, mit denen sie die Leichtgläubigkeit der Medien entlarvte. Natürlich machte auch diese Falschmeldung Schlagzeilen, und die italienischen Medien schrieben, sie hätten ihre Lektion gelernt und würden in Zukunft vorsichtiger sein, wenn es darum geht, sensationellen Anschuldigungen gegen „Sekten“ Glauben zu schenken. Leider haben sie sowohl den Vorfall, als auch die Lektion daraus schnell wieder vergessen.

2018 veröffentlichte der amerikanische Wissenschaftler W. Michael Ashcraft ein Werk, das das akademische Standard-Handbuch zur Geschichte der Erforschung neuer religiöser Bewegungen wurde. Ashcraft beschrieb die Entwicklung dieses akademischen Forschungsgebiets, in dem sich seit den 1980er-Jahren die Sichtweise festigte, dass „Sekte“ keine gültige Kategorie ist, sondern ein Etikett, mit dem unliebsame Minderheiten verleumdet werden; dass „Gehirnwäsche“ eine pseudowissenschaftliche Theorie ist, die für denselben Zweck als Waffe eingesetzt wird; und dass Berichte von Abtrünnigen – d. h. der Minderheit unter den ehemaligen Mitgliedern, die zu aktiven Gegnern der Religionen geworden sind, die sie verlassen haben – mit Vorsicht zu genießen sind und nicht als Hauptinformationsquelle über ihre früheren religiösen Bewegungen dienen können.

Ashcraft stellte fest, dass die große Mehrheit der wissenschaftlichen Forscher über neue religiöse Bewegungen diesen Ansichten zustimmte, während eine kleine Minderheit sich von der Hauptströmung abspaltete, die kämpferischen Anti-Kult-Bewegungen und Apostaten unterstützte und eine eigene Gruppe von „Sektenforschung“ schuf. Sie behaupteten, dass „Sekten“ sich von legitimen religiösen Bewegungen unterschieden und „Gehirnwäsche“ betrieben. „Sektenforschung“, schrieb Ashcraft, wurde nie als „Mainstream-Wissenschaft“ akzeptiert. Sie sei „ein Projekt, das von einer kleinen Gruppe engagierter Wissenschaftler betrieben wird“, aber nicht von der „größeren akademischen Gemeinschaft auf nationaler und internationaler Ebene“ unterstützt werde. Die „Sektenforscher“ leben in ihrer eigenen Sphäre und treten nur selten auf seriösen Konferenzen über neue religiöse Bewegungen auf oder werden in den entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlicht.

William Michael Ashcraft und sein bahnbrechendes Buch von 2018.
 William Michael Ashcraft und sein bahnbrechendes Buch von 2018.

Ashcraft wies jedoch auf ein merkwürdiges Phänomen hin, das an sich schon eine akademische Untersuchung wert wäre. Obwohl sie eine winzige und kritisierte Minderheit in der akademischen Welt darstellen, werden „Sektenforscher“ von den Medien häufiger als „Sektenexperten“ zitiert als ihre Kollegen. Generell spielen kämpferische Anti-Kult-Aktivisten und abtrünnige Ex-Mitglieder eine unverhältnismäßig große Rolle als Quellen für Medienberichte über Gruppen, die als „Sekten“ bezeichnet werden. Mainstream-Wissenschaftler werden oft ignoriert, ebenso wie jene Mitglieder, die in religiösen Bewegungen bleiben und damit glücklich sind. Es kommt auch häufig vor, dass Vertreter von „Sekten“ von Reportern, die dabei sind, einen negativen Artikel zu veröffentlichen, angerufen und unvermittelt gefragt werden: „Wie verteidigen Sie sich?“, wobei sie aufgefordert werden, innerhalb weniger Stunden eine Stellungnahme abzugeben, was offensichtlich eine groteske Vorstellung von ausgewogenem Journalismus ist.

Es gibt zahllose Beispiele für diese Haltung. Ein spektakuläres Beispiel ist die kürzlich erschienene Podcast-Serie der britischen Zeitung The Telegraph über Jehovas Zeugen und sexuellen Missbrauch. Der Podcast enthält weniger als dreißig Sekunden, in denen Zoe Knox, eine bekannte Wissenschaftlerin, kurz auf einige Glaubensvorstellungen von Jehovas Zeugen eingeht. Nach dem sehr kurzen Gastauftritt von Knox bringt der Sprecher die Überzeugung von The Telegraph zum Ausdruck, dass „abgesehen von Wissenschaftlern, die wahren Experten auf diesem Gebiet diejenigen seien, die es erlebt haben: ehemalige Zeugen Jehovas.“ Mit „ehemaligen Zeugen Jehovas“ meint The Telegraph die Abtrünnigen.

Meine Kritik an der Serie von The Telegraph wurde in einem Online-Forum von Wissenschaftlern diskutiert, die sich mit Jehovas Zeugen beschäftigen. George Chryssides, zweifellos der führende britische wissenschaftliche Experte zu Jehovas Zeugen, enthüllte, dass er von The Telegraph ausführlich interviewt worden war, aber kein einziges Wort seines Interviews in den Podcast aufgenommen wurde. Er hatte ihnen einfach nicht das gesagt, was sie hören wollten.

Jehovas Zeugen erreichten, dass eine italienische Publikation (L’Indro) und zwei norwegische (Fosna-Folket und Vårt Land) von den journalistischen Kontrollgremien zensieret wurden, aber das war zu wenig und kam zu spät. Anwälte wissen, dass Verleumdungsklagen bekanntermaßen schwierig sind. Außerdem dauern sie Jahre, und selbst ein positives Urteil nützt nicht viel, wenn der ursprüngliche Artikel seine verleumderische Wirkung bereits entfaltet hat.

Die „Politischen Leitlinien“ der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) aus dem Jahr 2019 zum Thema Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie Sicherheit lassen ein Bewusstsein für dieses Problem erkennen. Darin werden Medien aufgefordert, „alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Respekt für die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen zu steigern, indem sie unvoreingenommene, genaue Informationen und Darstellungen verschiedener Religionen und Weltanschauungen vermitteln sowie negativen Klischees und Vorurteilen entgegenwirken“. „Indem sie positive Berichte über alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verbreiten und negativen sowie diskriminierenden Vorurteilen aus dem Weg gehen, können Medien zu einem toleranteren gesellschaftlichen Diskurs beitragen, der in Erfahrungen aus dem wirklichen Leben von Einzelpersonen und Gemeinschaften verwurzelt ist, ohne bestehende Herausforderungen zu ignorieren“, so die OSZE. „Medien sind in der Tat ein wichtiger Akteur bei der Entwicklung eines kritischen öffentlichen Diskurses über das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Religionen oder Weltanschauungen“.

Ignoriert: Die politischen Leitlinien der OSZE von 2019 zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie Sicherheit.
Ignoriert: Die politischen Leitlinien der OSZE von 2019 zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie Sicherheit.

Das ist nie passiert. Wenn überhaupt, wurde die Voreingenommenheit von Medien gegenüber „Sekten“ noch größer. Und warum? Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Offensichtlich gibt es mächtige Anti-Kult-Lobbys, die oft von Regierungen unterstützt werden, deren repressive Politik sie rechtfertigen sollen, und sie sind reicher, mächtiger und besser organisiert als Wissenschaftler. Allgemeiner ausgedrückt: Seit der Zeit der antikatholischen Schriften der Französischen Revolution verkaufen sich reißerische Geschichten über Religion immer gut, umso mehr, wenn sie mit – wahren oder falschen – Geschichten über sexuellen Missbrauch und die Geldgier der Religiösen gewürzt sind. Macht, Geld und Sex verkaufen sich naturgemäß gut. Dies ist ein grundsätzliches Problem eines Mediensystems, das eher von Aktien und Verkaufszahlen als von Objektivität und Wahrheit bestimmt wird. Dass ein Priester oder Pastor kleine Jungen missbraucht, lässt sich gut verkaufen. Dass er sein Leben aufrichtig dem Wohl und der Erziehung von Kindern widmet, nicht.

Eine Reform des Mediensystems ist entweder unmöglich oder ein langfristiges Projekt. Religiöse Bewegungen, die zu Unrecht als „Sekten“ bezeichnet werden, und Wissenschaftler, die die Fehlerhaftigkeit der meisten Anschuldigungen gegen sie kennen, sollten natürlich reagieren. Sie täten jedoch gut daran, „Die Kunst, Recht zu behalten“, einen überraschend modernen Text des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer aus dem Jahr 1831, erneut zu lesen. Als hätte er die modernen Medien vorhergesehen, listet Schopenhauer eine Reihe von Tricks auf, mit denen sich eine falsche Theorie durchsetzen kann. Falschinformationen werden verbreitet, indem man mit bestehenden Vorurteilen der Leser spielt und sich darauf verlässt, dass nur wenige eine Richtigstellung lesen würden.

Ein alter Redaktionswitz besagt: „Ein Dementi zu veröffentlichen, bedeutet, dieselbe Nachricht zweimal zu veröffentlichen“. In der Tat funktioniert ein einfaches Dementi einer Anschuldigung nie. „Wir missbrauchen keine Kinder“ bestärkt beim Publikum lediglich die Vorstellung, dass man etwas mit dem Missbrauch von Kindern zu tun hat. Wie Schopenhauer gelehrt hat, sollte man den Spieß wirklich umdrehen, statt nur in eine Verteidigungshaltung zu gehen, und die Diskussion darauf lenken, wer die Ankläger sind, was ihre Beweggründe sind, wer wir sind und warum wir es sind, die eine höhere Moral haben. Eine schwierige Strategie, aber Medienkriege waren noch nie leicht zu gewinnen.

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