BITTER WINTER

Die unabhängige Aufarbeitungskommission von England und Wales für sexuellen Kindesmiss-brauch: Jehovas Zeugen und die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel

by | Oct 15, 2021 | Documents and Translations, German

Die Regel, dass zwei Zeugen erforderlich sind, bezieht sich nur auf die innerkirchlichen Verfahren und hat nichts mit der Zusammenarbeit der Organisation mit staatlichen Behörden zu tun.

von Massimo Introvigne

Teil 2 von 2. Lesen Sie Teil 1.

Read the original article in English.

From the July 1–August 4, 2019, study issue of The Watchtower, which offered important insights on the Jehovah’s Witnesses policy against child sexual abuse.
Aus der Studienausgabe des Wachtturms vom 1. Juli bis 4. August 2019, die wichtige Einblicke in die Richtlinien von Jehovas Zeugen gegen sexuellen Kindesmissbrauch bietet.

Wie im ersten Artikel dieser Serie erörtert, kam die Independent Inquiry into Child Sexual Abuse (Unabhängige Aufarbeitungskommission für sexuellen Kindesmissbrauch) für England und Wales in ihrem Bericht vom September 2021 über den Schutz von Kindern vor Missbrauch in religiösen Organisationen und Umgebungen zu dem Schluss, dass die von Jehovas Zeugen verfolgten Richtlinien im Umgang mit Fällen von Kindesmissbrauch zwar in der Vergangenheit problematisch waren, wie es auch bei den meisten anderen Religionen der Fall war, inzwischen aber verbessert wurden. Anstatt sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, zogen es einige Medien vor, diese Gelegenheit zu nutzen, um sich auf Fälle aus der Vergangenheit zu konzentrieren und alte Verleumdungen gegen Jehovas Zeugen zu wiederholen.

Andererseits gibt es einen Aspekt, in dem die Kommission Jehovas Zeugen schwer kritisiert, was aber meiner Meinung nach ungerechtfertigt ist. Dabei geht es um die sogenannte „Zwei-Zeugen-Regel“. Die Kommission stellt zunächst fest, dass viele religiöse Organisationen keine internen Disziplinarmaßnahmen gegen ihre Mitglieder ergreifen, die des sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden, sofern es sich nicht um Geistliche oder Angestellte handelt. Die meisten gehen nicht gegen einfache Gemeindemitglieder vor. Jehovas Zeugen, so stellt die Untersuchung fest, sind ein seltenes „Beispiel für eine religiöse Organisation, die ein solches internes Verfahren eingeführt hat. Nach der Entscheidung, ob eine Weiterleitung an die staatlichen Stellen erfolgen soll, prüfen zwei Älteste, ob es genügend Beweise gibt, um eine Anschuldigung aus biblischer Sicht zu begründen“ (S. 71, Abs. 30.1).

In den religiösen Handbüchern von Jehovas Zeugen wird erklärt, dass in Ermangelung eines Geständnisses ein kirchliches Rechtskomitee, um den mutmaßlichen Täter zu disziplinieren, nur unter folgenden Bedingungen einberufen werden kann: „Es muss zwei oder mehr Augenzeugen geben, nicht nur jemand, der wiedergibt, was er gehört hat. Gibt es nur einen Zeugen, wird kein Rechtskomitee gebildet“ (S. 71, Abs. 30.1).

Die Aufarbeitungskommission kritisiert diese kirchliche Zwei-Zeugen-Methode und stellt fest, dass „die Anwendung der Regel im Zusammenhang mit sexuellem Kindesmissbrauch wahrscheinlich das Leiden der Opfer vergrößert und nicht die Realität widerspiegelt, dass sexueller Kindesmissbrauch natürlicherweise meistens in Abwesenheit von Zeugen verübt wird“ (S. 72, Abs. 30.1). Die Kommission schreibt weiter: „Es ist klar, dass die Regel den Opfern und Überlebenden von sexuellem Kindesmissbrauch schaden kann […] Die fortgesetzte Anwendung dieser Regel zeigt, dass die Schwere der Verbrechen und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen nicht berücksichtigt werden. Sie lässt auch das Mitgefühl für das Opfer vermissen und dient dem Schutz des Täters“ (S. 115, Abs. 25).

Ich bin da ganz anderer Meinung. Hier scheint die Kommission in genau die Verwechslung zu verfallen, die sie lobenswerterweise in anderen Fragen zu vermeiden versuchte. Sie gibt zu, dass die so genannte Zwei-Zeugen-Regel „nicht als Schutzmaßnahme gedacht ist“ (S. 115, Abs. 25). Mit anderen Worten, sie hat nichts mit dem Anliegen zu tun, für das die Kommission beauftragt wurde.

Wie Jehovas Zeugen oder jede andere Religion ihre kirchlichen Angelegenheiten innerhalb der Gemeinde handhaben, sollte für eine weltliche Untersuchung nicht von Belang sein. Religions- und Versammlungsfreiheit erlauben es ihnen, ihre Mitglieder so zu bestrafen oder nicht zu bestrafen, wie sie es für richtig halten. Wenn sie die Gesetze oder Vorschriften über die Anzeige von Mitgliedern, die des sexuellen Missbrauchs verdächtigt werden, bei der Polizei eingehalten haben, ist es eine innerkirchliche Angelegenheit, die weltliche Institutionen nicht zu regeln haben, ob sie sie in der Gemeinde behalten, ausschließen oder anderweitig bestrafen.

Dies geschieht auch in anderen religiösen Organisationen. Sie können Mitglieder beispielsweise wegen Ketzerei ausschließen, was kein weltliches Gericht als Verbrechen ansehen würde. Umgekehrt können sie beschließen, Mitglieder, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben, das von weltlichen Gesetzen als solches anerkannt wird, nicht auszuschließen, vielleicht weil sie hoffen, dass sie bereuen und zu Gott zurückkehren, was vor einem weltlichen Gericht irrelevant sein mag, in einem religiösen Kontext aber sehr wohl von Bedeutung ist.

Jehovas Zeugen finden eine ausführliche und unmissverständliche Erklärung dieses Unterschieds in einem Artikel aus dem Jahr 2019 ihrer offiziellen Publikation Der Wachtturm, der sich mit sexuellem Kindesmissbrauch befasst und Teil einer Reihe von Artikeln ist, die als Kerndokument zur Erläuterung der Schutzrichtlinie gelten und von allen Gemeinden der Zeugen Jehovas in der ganzen Welt studiert wurden. Der Artikel bezeichnete den sexuellen Missbrauch von Kindern als „ein besonders abstoßendes, abscheuliches Vergehen“. Wenn sich ein Zeuge Jehovas des sexuellen Missbrauchs schuldig macht, verstößt er oder sie sowohl gegen das Gesetz des Landes als auch gegen das Gesetz Gottes.

Was das Gesetz des Landes betrifft, so erklärt der Wachtturm: „Christen müssen ‚sich den übergeordneten Autoritäten unterordnen‘. (Röm. 13:1) Das zeigt sich daran, dass wir die Landesgesetze respektieren. Begeht jemand aus der Versammlung eine Straftat wie etwa Kindesmissbrauch, sündigt der Betreffende gegen die staatlichen Behörden. (Vergleiche Apostelgeschichte 25:8.) Älteste sind nicht zur Strafverfolgung befugt, aber sie bewahren auch keinen Missbrauchstäter vor den rechtlichen Folgen seiner Tat (Röm. 13:4).“ In dem Artikel wird bekräftigt, dass die Anzeige eines Missbrauchs bei staatlichen Behörden nicht gegen einen religiösen Grundsatz verstößt: „Was aber, wenn die Anzeige jemand aus der Versammlung betrifft und der Fall dann öffentlich bekannt wird? Sollte derjenige, der den Fall gemeldet hat, denken, er habe Jehovas Namen in den Schmutz gezogen? Nein. Nicht er, sondern der Täter hat Jehovas Namen in den Schmutz gezogen.“

Eine ganz andere Frage ist, ob das beschuldigte Mitglied aus der Gemeinde ausgeschlossen werden sollte. Hier können die Ältesten andere Kriterien als weltliche Gerichte anwenden. „Ein Christ, der einem verkehrten Verlangen nachgibt und eine schwere Sünde begeht, ist im Glauben krank, das heißt, er hat kein gutes Verhältnis zu Jehova mehr. Die Ältesten sind dann wie Ärzte. Sie wollen ‚den Kranken [in dem Fall den Täter] gesund machen‘. Ihr Rat aus der Bibel kann ihm helfen, sein Verhältnis zu Gott wiederherzustellen, aber nur, wenn er wirklich bereut.“

Aus diesem Grund gehen die Ältesten mit Vorsicht vor, bevor sie ein Verfahren vor einem Rechtskomitee beginnen, das zum Ausschluss des Beschuldigten führen kann, und wenden die Regel an, die sie in der Bibel finden, unter anderem in 1. Timotheus 5:19, dass mindestens zwei Zeugen erforderlich sind. Noch einmal: Diese Regel gilt für das innerkirchliche Verfahren der Gemeinde, nicht für die Entscheidung, den Verdächtigen bei staatlichen Behörden anzuzeigen. „Müssen auch zwei Zeugen vorhanden sein,“ fragt Der Wachtturm, „damit ein Missbrauchsfall den Behörden gemeldet werden kann? Nein. Das ist keine Voraussetzung dafür, dass Älteste oder andere eine mutmaßliche Straftat zur Anzeige bringen.“

Was die innerkirchliche Untersuchung der Versammlung betrifft, so gilt: „Ein Rechtskomitee wird gebildet, wenn die Anklage von mindestens zwei Zeugen gestützt wird – von dem, der die Beschuldigung vorbringt, und von einer zweiten Person, die das gemeldete oder andere Missbrauchsvergehen seitens des Beschuldigten bestätigt.“

Die so genannte Zwei-Zeugen-Regel bedeutet weder, dass in Ermangelung eines zweiten Zeugen das Opfer, das den Missbrauch angezeigt hat, der Lüge bezichtigt wird, noch dass der Beschuldigte geschützt wird. Wie wir gesehen haben, wird der Beschuldigte gemäß den Gesetzen des Landes bei den weltlichen Behörden angezeigt. Außerdem: „Fehlt ein zweiter Zeuge, bedeutet das nicht, dass der Beschuldiger die Unwahrheit gesagt hat. Selbst wenn sich eine Anklage nicht durch zwei Zeugen stützen lässt, ist den Ältesten bewusst, dass eine schwere Sünde vorliegen könnte, die tiefe Wunden gerissen hat. Sie werden Betroffenen kontinuierlich Beistand leisten. Außerdem bleiben sie dem Beschuldigten gegenüber wachsam, um die Versammlung vor potenziellen Gefahren zu schützen.“ In der Tat werden als Schutzmaßnahmen für Kinder normalerweise Einschränkungen gegen diejenigen verhängt, die des Kindesmissbrauchs für schuldig befunden werden, aber nicht ausgeschlossen werden.

Diese ausführliche Erklärung verdeutlicht, was die so genannte Zwei-Zeugen-Regel ist und was sie nicht ist. Eine säkulare Untersuchung hätte sich jedoch auf die Tatsache beschränken sollen, dass die Regel keine Rolle dabei spielt, wie Jehovas Zeugen in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch mit staatlichen Behörden zusammenarbeiten. Die Zwei-Zeugen-Regel gehört in den Bereich der kirchlichen Leitung einer Religion, in den sich weltliche Regierungen nicht einmischen können, ohne die korporative Religionsfreiheit der religiösen Organisationen zu verletzen.

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