BITTER WINTER

Das Urteil von Gent bezüglich Jehovas Zeugen: Anomalie oder neue Realität?

by | Sep 9, 2021 | Documents and Translations, German

In einem beispiellosen Urteil haben Richter eine langjährige Auslegung der Artikel 9, 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention auf den Kopf gestellt.

von James T. Richardson*

* Der Inhalt wurde vorgetragen auf dem Webinar „Jehovah’s Witnesses, Shunning, and Religious Liberty: The Ghent Court Decision” [Jehovas Zeugen, das Meiden von Personen und Religionsfreiheit: Das Urteil von Gent], 9. April 2021 [siehe Video des Webinars].Read the original article in English.

From the Watchtower, January 15, 2013: “Hoping that a loved one will return to Jehovah.”
Aus dem Wachtturm vom 15 Januar 2013: “Hoffen, dass ein Angehöriger wieder zu Jehova zurückkehrt”.

Im Jahr 2007 verabschiedete die belgische Regierung ein neues, sehr umfangreiches Antidiskriminierungsgesetz. Dies geschah als Antwort auf eine Richtlinie der Europäischen Union, neue Gesetze gegen Diskriminierung zu erarbeiten, die mit den Werten der EU in Übereinstimmung sind. Dieses Gesetz, das den Werten der Antidiskriminierung vor anderen Belangen Vorrang geben sollte, beinhaltet sowohl strafrechtliche als auch zivile Elemente, womit es in beiden Bereichen Anwendung findet. Nun hat das Verfassungsgericht von Belgien aber entschieden, dass das Gesetz Mängel aufweist und deshalb in dessen Anwendung einige Ausnahmen erlaubt sein sollen, zum Beispiel im Zusammenhang mit den inneren Angelegenheiten religiöser Gruppen.

Im Auftrag ehemaliger Zeugen Jehovas leitete die Staatsanwaltschaft von Gent 2015 ein Strafverfahren gegen eine örtliche Versammlung von Jehovas Zeugen wegen Verstoßes gegen das Antidiskriminierungsgesetz ein. Der Grund ist ihre Praxis, Personen zu meiden, die die Versammlung verlassen hatten oder aus ihr ausgeschlossen wurden. In der Klage berief man sich sowohl auf strafrechtliche als auch auf zivile Elemente des Gesetzes. Die Klage schien sehr koordiniert zu sein und das Resultat eines gut abgestimmten Angriffs auf Jehovas Zeugen. Die Kläger und eine Anzahl Zeugen machten geltend, die Versammlung hätte „zur Diskriminierung oder Ausgrenzung einer Person angestachelt“ sowie „Hass oder Gewalt gegen eine Person gefördert“ und so gegen die strafrechtlichen Elemente des Antidiskriminierungsgesetzes verstoßen.

Durch ihren Rechtsberater erklärte die angeklagte Versammlung dem Gericht detailliert die theologische Grundlage der Praxis, Personen zu meiden. Zudem machte die Versammlung anfänglich geltend, es liege eine Verletzung von Artikel 6 (1) der EMRK vor (Recht auf ein faires und unparteiisches Verfahren). Diese Behauptung wurde aber abgelehnt sowie auch die Behauptung, die Verjährungsfrist würde die Klage verhindern. Andere Einwände bezogen sich u. a. auf Artikel 19 der belgischen Verfassung, der „die Religionsfreiheit, die freie Religionsausübung sowie die Freiheit der Meinungsäußerung in allen Bereichen … gewährleistet“ und auf Artikel 21, der lautet: „Der Staat hat nicht das Recht, in die [inneren Angelegenheiten] einer Religion einzugreifen.“ Die Versammlung zitierte auch Artikel 9, 10 und 11 der Europäischen Konvention, welche Religions- und Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit der Meinungsäußerung garantieren. Die Versammlung behauptete, sollte das Gericht die Klagen als bewiesen betrachten, entspräche dies einem Verstoß gegen die Neutralitäts- und Unparteilichkeitspflicht, die von diesen Artikeln gefordert werden, sowie gegen den eigentlichen Wesensgehalt dieser Artikel.

Das Gericht lehnte alle diese EMRK-Anträge ab mit der Begründung, sie seien nicht rechtskräftig und berief sich dabei auf Artikel 9.2, 10.2 und 11.2. Ebenso wenig beachtete das Gericht umfangreiche Zeugenaussagen des Angeklagten und anderes Beweismaterial und nahm in seinem Urteil in keinerlei Hinsicht auf sie Bezug.

Die erstaunliche Logik des Gerichts

Artikel 9.2 der EMRK sieht vor: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ In Bezug auf 9.2 sagte das Gericht: “Es kann gut sein, dass ein Staat in die Autonomie von Religionsgemeinschaften eingreift, wenn dieser Eingriff die Reaktion auf eine zwingende gesellschaftliche Notwendigkeit darstellt. Zudem muss eine vernünftige Verhältnismäßigkeit bestehen zwischen der rechtlichen Zielsetzung einerseits und der Einschränkung jener Freiheiten andererseits.“

Zu Artikel 10.2 stellte das Gericht fest: “Die Meinungsäußerung ist dann strafbar, wenn sie wissentlich und absichtlich in der Öffentlichkeit anstachelt zu Diskriminierung, Hass oder Gewalt gegenüber einer oder mehreren Personen aufgrund eines im Gesetz aufgelisteten Kriteriums. Anstachelung zu Hass, Abgrenzung oder Gewalt aufgrund eines im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgelisteten Kriteriums kann dann strafbar sein, ohne die freie Meinungsäußerung zu verletzen.“ Es machte auch geltend: „Artikel 10.2 der EMRK sieht vor, dass die Ausübung der freien Meinungsäußerung gewissen Formalitäten, Bedingungen, Einschränkungen oder Sanktionen unterliegen mag, sollten diese gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, auch für den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer.“

In Bezug auf Artikel 11.2 erklärte das Gericht: „Artikel 11.2 der EMRK sieht vor, dass die Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit überprüft werden kann hinsichtlich rechtlicher Einschränkungen und solcher, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, u. a. im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer … Angesichts dieser Einschränkungen … darf dieses Gericht sehr wohl eingreifen und hat die Befugnis, hinsichtlich der Verbrechen, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden, zu urteilen.“

Die wirklich verblüffenden Schlussfolgerungen des Gerichts

„Indem den Gläubigen gelehrt wird, Personen dieser Kategorie zu ignorieren, zu meiden und in sozialer Hinsicht zu isolieren mit dem Ziel, die ehemaligen Gläubigen zur Reue und zur Rückkehr zu Jehovas Zeugen zu bewegen, werden die gemäß Artikel 9 der EMRK und Artikel 19 des belgischen Verfassungsgerichts garantierte Glaubensfreiheit und die Freiheit, den Glauben zu wechseln, auf unzulässige Weise beschränkt.“

„Durch die Art, wie die Beklagte die Politik der Ausgrenzung verbreitet und sie den örtlichen religiösen Gemeinschaften vermittelt, wird auf unzulässige Weise das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der (ehemaligen) Mitgliedern der Zeugen Jehovas beschränkt, wie sie in Artikel 8 der EMRK und Artikel 22 der Verfassung garantiert wird.“ „Die Beklagte hat auf unzulässige Weise mehrere von der EMRK garantierten Rechte beschnitten, darunter das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 9 EMRK), die Freiheit der Meinungsäußerung (Artikel 10 EMRK) und letztlich das Diskriminierungsverbot (Artikel 14 EMRK).“

„Indem sie diese spezifische kriminelle Absicht unter dem Deckmantel der garantierten Religionsfreiheit und anderer von ihnen zitierter Rechte verhüllen, verletzen die Beschuldigten auf eklatante Weise das von der EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK), die Religionsfreiheit und die Freiheit, die Religion zu wechseln (Artikel 9), die Versammlungsfreiheit (Artikel 11) derer, die ausgeschlossen wurden und sich von der Religionsgemeinschaft zurückgezogen haben und das Diskriminierungsverbot (Artikel 14 EMRK).“

Die Diskussion darüber, ob die Politik des Ausschlusses auf der Interpretation von Versen aus der Bibel oder anderen Schriften basiert oder nicht, ist irrelevant“ (Hervorhebung von mir).

„Das Verhalten der Beschuldigten ist verantwortungslos und verwerflich. Anstachelung zu Diskriminierung und Anstiftung zu Hass und moralischer Gewalt aufgrund einer anderen religiösen Ansicht darf in unserer pluralistischen Gesellschaft unter keinen Umständen toleriert werden. Die Gesetzgebung hat ein solches Verhalten unter Strafe gestellt. Es obliegt daher der Justiz, der von der Beschuldigten begangenen Handlungen ein Ende zu setzen. Als Teil einer demokratischen Gesellschaft muss die Beschuldigte anerkennen, dass sie deren Grundwerte, die auch strafrechtlich geschützt sind, jederzeit respektieren muss.“

„Es ist auch die Aufgabe der Justiz, sicherzustellen, dass die Religions- und Meinungsfreiheit nicht missbraucht werden, um Verbrechen zu begehen und Personen irreparablen seelischen Schaden zuzufügen. In unserem Rechtsstaat hat das Gesetz Vorrang. Religiöse Regeln stehen in unserer Gesellschaft nicht über dem Gesetz.“

„Das Gericht hofft, dass sich die Beschuldigten durch diesen Strafprozess der Schwere ihrer Handlungen, die sie jahrelang begangen haben, bewusstwerden, und sie durch diesen Strafprozess unverzüglich dazu angeregt werden, Anpassungen vorzunehmen in ihrer Ausschlusspolitik, so dass sie künftig keine neuen Straftaten begehen.“

Das beispiellose Urteil des Gerichts

Am 16 März 2021 erging das Urteil gegen die Versammlung wegen Verstoßes gegen dieses Strafgesetz, und der Gruppe wurden Bußen auferlegt in einer Höhe von 96 000 Euro (zuzüglich Verfahrenskosten). Mögliche zivilrechtliche Strafen wurden auf später aufgeschoben (nachdem das Beschwerdeverfahren ausgeschöpft ist).

Dieses Urteil stellt einen drastischen Ausreißer dar. Das Urteil ignorierte auch ausdrückliche Aussagen der EU-Richtlinien, die Religionsorganisationen Ausnahmen erlauben und die zum Gesetz von 2007 führten. Es gilt auch zu beachten, dass das Urteil sowohl die von der Beklagten angebotenen umfangreichen Beweismittel gänzlich außer Acht ließ als auch Präzedenzfälle in Belgien und aus aller Welt, die bisher zu Gunsten von Jehovas Zeugen ausfielen und ihnen das Recht zuerkannten, ihre eigenen inneren Angelegenheiten zu regeln.

Potentielle Auswirkungen des Urteils

Die Anwendung der Artikel 9.2, 10.2 und 11.2 gegen Jehovas Zeugen stellt eine drastische Veränderung dar in der Art, wie diese Artikel gewöhnlich ausgelegt worden sind in Fällen, die Minderheitsreligionen betreffen. In der Vergangenheit waren diese Artikel ausschlaggebend, wenn es darum ging, Minderheitsreligionen zu schützen. Das Urteil von Gent hat sie jedoch auf den Kopf gestellt, gegen Minderheitsreligionen angewendet und damit eine Reihe Fragen aufgeworfen.

Könnte dies den Beginn einer grundlegenden Veränderung innerhalb des Rechtssystems markieren in Zusammenhang damit, wie die EMRK und nationale Verfassungsbestimmungen zur Religionsfreiheit interpretiert werden in Fällen, die mit Minderheitsreligionen zu tun haben?

Könnte dieses Urteil – sollte es aufrechterhalten werden – eventuell darüber Fragen aufwerfen, wie Fälle von JZ vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bisher behandelt worden sind? (Seit 1993 haben sie über 60 EGMR-Fälle gewonnen).

Heißt dies, dass Gerichte künftig versuchen werden, innere Angelegenheiten von Religionsgemeinschaften zu regeln, sollte das Urteil nicht im Berufungsverfahren innerhalb des belgischen Rechtssystems abgeändert oder vor dem EGMR gewonnen werden?

Und schließlich, wie würden Jehovas Zeugen künftig solche Angelegenheiten handhaben, wenn Gerichte wirklich versuchten, sich in innere Angelegenheiten der Organisation einzumischen?


James T. Richardson

James T. Richardson ist emeritierter Professor der Soziologie und der Rechtswissenschaften an der University of Nevada, Reno. Er promovierte 1968 an der Washington State University und erhielt seinen Juris Doctor 1986 an der Old College, Nevada School of Law. 48 Jahre lang lehrte er an der University of Nevada, Reno, bevor er 2016 in den Ruhestand trat. Er stand dem Masterstudiengang vor sowie dem Promotionsstudium in Jurisprudenz für erstinstanzliche Richter. Zudem war er Fakultätsmitglied im Fachbereich Soziologie und zuständig für das Doktoratsstudium im Bereich der Sozialpsychologie. Als Autor und Herausgeber von 15 Büchern und Hunderten von Artikeln und Kapiteln in den Bereichen Religionssoziologie, neuer religiöser Bewegungen, Religion und Recht. Auch hatte er verschiedene Gastprofessuren inne an Universitäten in England, Australien und anderswo.

NEWSLETTER

SUPPORT BITTER WINTER

READ MORE