BITTER WINTER

Gemeinschaftsentzug: Die Suche nach einem Interessensausgleich zwischen gegensätzlichen Freiheiten

by | Sep 10, 2021 | Documents and Translations, German

Die Entscheidung des Genter Gerichts, die von Jehovas Zeugen praktizierte ,,Meidung‘‘ als illegal einzustufen, ignoriert europäische und belgische Präzedenzfälle und ist eindeutig falsch.

von Yannick Thiels*

* Der Inhalt wurde vorgetragen auf dem Webinar „Jehovah’s Witnesses, Shunning, and Religious Liberty: The Ghent Court Decision” [Jehovas Zeugen, das Meiden von Personen und Religionsfreiheit: Das Urteil von Gent], 9. April 2021 [siehe Video des Webinars].

Read the original article in English.

A Medieval rendering of Catholic excommunication. But excommunication continues today.
Eine mittelalterliche Darstellung der katholischen Exkommunikation. Die Exkommunikation besteht jedoch auch heute noch (Bildquelle).

Gemeinschaftsentzug und Meidung sind Tatsachen des modernen Lebens.

Berufsverbände, wie z. B. Anwaltskammern oder Ärztekammern, schließen routinemäßig Mitglieder aus, die die Mindeststandards für die Ausübung ihrer Tätigkeit nicht erfüllen. Die Auswirkungen eines Ausschlusses als Anwalt oder Arzt können tiefgreifend und lebenslang sein. Niemand würde jedoch das Recht der Berufsverbände in Frage stellen, Ausschlüsse vorzunehmen.

Zu den Tatsachen des Lebens gehört ebenso, dass in vielen Familien (religiösen oder nicht- religiösen) die Beziehungen so zerrüttet sind, dass die unmittelbare und die erweiterte Familie nicht mehr miteinander sprechen und verkehren möchte. Gleiches gilt für Nachbarn und Arbeitskollegen. Die „Gründe“, die sie dafür anführen, nicht mehr mit einem anderen Familienmitglied, Nachbarn oder Arbeitskollegen zu sprechen oder zu verkehren – und andere dazu zu ermutigen, dasselbe zu tun –, können von einer empfundenen Kränkung über eine Rivalität über die „beste“ Fußballmannschaft bis hin zu tiefen Meinungsverschiedenheiten über die Unterstützung einer bestimmten Gewerkschaft oder politischen Partei reichen.

Aber auch hier würde niemand behaupten, dass solche Entscheidungen rechtswidrig, geschweige denn als „Verbrechen“ einzustufen seien.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied in der Rechtssache Associated Society of Locomotive Engineers and Firemen (ASLEF) v. the United Kingdom, Nr. 11002/05, 27. Februar 2007: „Wenn Vereinigungen von Menschen gegründet werden, die sich für bestimmte Werte oder Ideale einsetzen und gemeinsame Ziele verfolgen wollen, würde es der Wirksamkeit der auf dem Spiel stehenden Freiheit zuwiderlaufen, wenn sie keine Kontrolle über ihre Mitgliederschaft hätten.“

Nur wenige würden dieser Argumentation widersprechen. Es ist elementarer, gesunder Menschenverstand.

Gilt dasselbe für die Entscheidung einer Religion, einen Anhänger auszuschließen, und dafür, dass die Anhänger ihr religiöses Gewissen nutzen, um diese Person zu meiden? Alle Berufungsinstanzen und obersten Gerichtshöfe, die sich mit dieser Frage befasst haben, haben durchweg das Recht der Religionsgemeinschaft bestätigt, den ehemaligen Anhänger auszuschließen und zu meiden.

Das Urteil des Gerichts in Gent vom 16. März 2021 kam jedoch zu einem gegenteiligen Schluss und befand, dass es eine Straftat darstellt, wenn eine Religion – in diesem Fall Jehovas Zeugen – Anhänger ihre biblischen Überzeugungen in Bezug auf Gemeinschaftsentzug und Meidung lehrt. Das Genter Gericht zitiert keine einzige Entscheidung in Belgien oder irgendwo sonst auf der Welt, die diese atemberaubende Behauptung unterstützen würde.

Der kirchliche Kontext

Um besser zu verstehen, warum die Entscheidung von Gent falsch ist, ist es hilfreich, ein grundlegendes Verständnis der Überzeugungen von Jehovas Zeugen in Bezug auf das „Meiden“ zu haben.

Im Gegensatz zu anderen Religionsgemeinschaften praktizieren Jehovas Zeugen keine Kindertaufe. Eine Person kann der Gemeinschaft von Jehovas Zeugen erst nach einem sorgfältigen Studium der Bibel und der religiösen Überzeugungen von Jehovas Zeugen beitreten – ein Prozess, der viele Monate oder länger dauert.

Was geschieht, wenn der Anhänger später eine schwere Sünde begeht (wie z. B. Ehebruch oder Diebstahl)? Die Ältesten werden sich mit der Person treffen und versuchen, die geistige Gesundheit des Betroffenen wiederherzustellen. Wenn sie zu dem Schluss kommen, dass die Person keine Reue im biblischen Sinn an den Tag legt, wird ihr die Gemeinschaft entzogen (d. h. sie wird ausgeschlossen). Die Ältesten werden später während eines Gottesdienstes eine kurze Bekanntmachung geben, in der es knapp heißt: „[Name der Person] ist kein Zeuge Jehovas mehr.“ Nichts anderes wird der Versammlung mitgeteilt oder anderweitig bekannt gegeben.

Ein ähnliches Verfahren wird angewandt, wenn eine Person die Ältesten darüber in Kenntnis setzt, dass sie nicht mehr zu Jehovas Zeugen gehören will. Dies wird als „Verlassen der Gemeinschaft“ bezeichnet. Die Ältesten werden während eines Gottesdienstes eine kurze Bekanntmachung geben, in der es heißt: „[Name der Person] ist kein Zeuge Jehovas mehr.“ Auch in diesem Fall wird der Versammlung nichts anderes mitgeteilt oder anderweitig bekannt gegeben.

In beiden Fällen, ob die Person nun ausgeschlossen wird oder sich dafür entscheidet, die Gemeinschaft zu verlassen, werden die einzelnen Gemeindemitglieder nach ihrem religiösen Gewissen entscheiden, ob sie ihre Verbindung zu dieser Person einschränken oder beenden wollen, und zwar auf der Grundlage ihres Verständnisses dessen, was die Bibel in 1. Korinther 5:11-13 und 2. Johannes 1:9-11 gebietet. Auf der Website von Jehovas Zeugen, www.jw.org, wird klargestellt: „Wie sieht es aus, wenn jemand ausgeschlossen wird, seine Frau und seine Kinder aber nach wie vor Zeugen Jehovas sind? Das Band, das ihn im Dienst für Gott mit seiner Familie verbunden hat, ist zwar nicht mehr dasselbe. Doch er gehört weiter zur Familie. Die Bindung aneinander bleibt bestehen; das Eheleben und der normale Familienalltag gehen weiter.“

Eine ausgeschlossene Person bzw. eine Person, die die Gemeinschaft verlassen hat, darf immer noch an den Gottesdiensten der Versammlung teilnehmen, bei diesen Gottesdiensten religiöse Lieder mitsingen und sich mit den Ältesten zu geistiger Beratung treffen. Sie darf auch darum bitten, wieder als Zeuge Jehovas aufgenommen zu werden.

Der High Court of England and Wales entschied in Bezug auf diese religiöse Praxis in der Rechtssache Otuo v. Watch Tower Bible and Tract Society of Britain [2019] EWHC 1349 (QB), Randnr. 122: „Es ist zu erwarten, dass eine religiöse Körperschaft, die sich von biblischen Grundsätzen leiten lässt und versucht, diese anzuwenden, die Befugnis hat, dafür zu sorgen, dass ein Sünder in einem angemessenen Fall ausgeschlossen werden kann. Dies ist unter anderem deshalb sinnvoll, wenn nicht gar unerlässlich, weil jemand, der nicht in der Lage oder willens ist, sich an biblische Grundsätze zu halten, nicht nur nicht ordnungsgemäß einer solchen Körperschaft als Mitglied angehört, sondern auch einen unerwünschten Einfluss auf die Gläubigen ausüben kann, wenn er nicht ausgeschlossen wird.“ (Siehe auch die Entscheidung des Supreme Court of Canada in der Rechtssache Highwood Congregation of Jehovah’s Witnesses v. Wall, 2018 SCC 26, [2018] 1 S.C.R. 750 Abs. 31, 36, 38).

Besteht ein Rechtsanspruch?

Hat die ausgeschlossene Person einen Rechtsanspruch? Ja – jedoch nicht den, den das Gericht in Gent festgestellt hat. Im Laufe der Jahrzehnte haben eine ganze Reihe von Antragstellern Varianten der Genter Beschwerden bei nationalen Gerichten und schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht.

In den frühen Fällen X/Dänemark, Spetz/Schweden und Karlsson/Schweden prüfte die Europäische Kommission für Menschenrechte (Kommission) beispielsweise Beschwerden von Anhängern gegen verschiedene religiöse Entscheidungen, die erhebliche Auswirkungen auf sie hatten. In allen drei Fällen entschied die Kommission, dass kein Verstoß gegen Artikel 9 vorlag, und vertrat die Auffassung, dass die „ausdrückliche Garantie“ für die Religionsfreiheit der Beschwerdeführer in ihrem Recht bestand, die Kirche zu „verlassen“.

Der EGMR hat denselben Weg eingeschlagen. Das deutlichste Beispiel hierfür ist die Entscheidung der Großen Kammer in der Rechtssache Sindicatul “Păstorul cel Bun” v. Romania [GC], Nr. 2330/09, 9. Juli 2013, in den Absätzen 137 und 165, in denen festgestellt wird: (1) „der Staat ist nicht befugt, eine Religionsgemeinschaft zu verpflichten, neue Mitglieder aufzunehmen oder bestehende auszuschließen“; (2) das Recht auf Religionsfreiheit „garantiert kein Recht auf Dissens innerhalb einer religiösen Körperschaft (…) die Religionsfreiheit des Einzelnen wird durch seine Freiheit, die Gemeinschaft zu verlassen, ausgeübt“; und (3) „die Anerkennung der Autonomie von Religionsgemeinschaften durch den Staat bedeutet insbesondere, dass dieser deren Recht akzeptiert, ihren eigenen Regeln und Interessen entsprechend auf Bewegungen zu reagieren, die eine Gefahr für ihren Zusammenhalt, ihre öffentliche Wahrnehmung oder ihre Einheit darstellen könnten.“

Die belgischen Berufungsgerichte haben sich in diesem Punkt eng an die Rechtsprechung des EGMR gehalten.

So entschied das Berufungsgericht Mons im Jahr 2012 über die Klage eines ehemaligen Zeugen Jehovas, der behauptete, die Praxis der Ausgrenzung verstoße gegen das belgische Antidiskriminierungsgesetz – dieselben Argumente, die im Fall Gent vorgebracht worden sind. Das Berufungsgericht Mons wies die Klage ab und kam zu dem Schluss: „Der Umstand, dass eine religiöse Bewegung für ihre Mitglieder Verhaltensregeln aufstellt und in ihren Zeitschriften veröffentlicht, die sich auf das Verbot beschränken, mit ehemaligen Mitgliedern, die ordnungsgemäß ausgeschlossen wurden, Umgang zu pflegen, mit ihnen zu sprechen oder sie auch nur zu grüßen, reicht nicht aus, um das Vorliegen einer Diskriminierung anzunehmen (…) [Der Kläger] befindet sich in einer ähnlichen Situation wie eine Person, die ordnungsgemäß aus einer Gruppe oder einem Verein ausgeschlossen wurde. Es steht ihm frei, sich mit allen Personen außerhalb dieser Gruppe zusammenzuschließen und eine andere Religion seiner Wahl anzunehmen, was er im Übrigen getan hat, indem er Protestant geworden ist.“

Aber was ist mit dem Hauptargument des Genter Gerichts, demzufolge das Prinzip der Meidung  religiösen Dissens „erstickt“ und die ausgegrenzte Person in ein Dilemma führt, entweder auf ihren abweichenden Praktiken zu beharren und gemieden zu werden oder denselben Praktiken zu entsagen und zum Glauben zurückzukehren (siehe Seiten 51 u. 52 des Urteils)? Die einfache Antwort darauf ist das, was die Große Kammer im Urteil Sindicatul „Păstorul cel Bun“ v. Romania entschieden hat: Artikel 9 „garantiert kein Recht auf Dissens innerhalb einer religiösen Körperschaft“. Vielmehr „wird im Falle einer Meinungsverschiedenheit über Fragen der Lehre oder der Organisation zwischen einer Religionsgemeinschaft und einem ihrer Mitglieder die Religionsfreiheit des Einzelnen durch die Freiheit ausgeübt, die Gemeinschaft zu verlassen.“

Dies ist kaum überraschend. Es liegt in der Natur von Religion, von abweichender Haltung abzuraten. So entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Rechtssache Jehovah’s Witnesses of Moscow v. Russia (Nr. 302/02, 10. Juni 2010) in Randnr. 118: „Es ist ein gemeinsames Merkmal vieler Religionen, dass sie lehrmäßige Verhaltensstandards festlegen, an die sich ihre Anhänger in ihrem Privatleben halten müssen.“

Was bedeutet all dies nun für uns? Die Entscheidung von Gent ist eindeutig falsch und stellt einen schwerwiegenden Verstoß gegen die belgische Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention dar. Sie muss dringend revidiert werden.

NEWSLETTER

SUPPORT BITTER WINTER

READ MORE